Eine Demenz kann sehr tückisch sein und bringt die Pflegenden häufig in surreale Situationen. Damit zurecht zu kommen ist für die Angehörigen nicht einfach.
Es klingelte an meiner Wohnungstür. Oma stand davor und sagte: „Opa lässt fragen, ob Du die Schublade reparieren kannst.“
Eine alltägliche Situation. Eigentlich nichts außergewöhnliches, wäre mein Opa nur nicht schon vor vielen Jahren verstorben. Sah meine Oma nun Geister? War vielleicht ein fremder Mann in ihrer Wohnung, von dem sie dachte, er sei Opa? Auf Nachfrage erfuhr ich, dass sie mit meinem Opa in der Firma telefoniert habe. Nun konnte ich eins und eins zusammen zählen. Durch die dünne Wand zwischen unseren Wohnungen hatte ich mitbekommen, dass sie kurz zuvor mit meinem Onkel telefoniert hatte. Sie schien dies einfach durcheinander zu werfen. Ich sagte ihr, dass Opa schon lange tot sei und ich mich um die Schublade kümmern würde. „Das weiß ich doch, dass Opa tot ist.“, erwiderte sie und sah mit Wohlwollen zu, wie ich die Schublade wieder funktionstüchtig machte.
Es war ein surrealer Moment. Wie sollte ich reagieren? Ich konnte schnell herausfinden, welche falsche Abzweigung ihr Gehirn genommen hatte. Das Risiko ihr zu sagen, dass Opa tot ist, war hoch. Was wäre gewesen, wenn sie mit Trauer oder Unglauben reagiert hätte? Ich wollte sie nie in ungute Gefühle stürzen. Jedes Gespräch glich einer Umfahrung von Klippen auf hoher See.
Und während man wieder einmal feststellt, dass die Demenz voran schreitet und neue Formen der Verwirrung zeigt, rasten hunderte Gedanken durch meinen Kopf. Jede Verschlechterung lässt einen sorgenvoll an morgen denken.
- Wie damit umgehen?
- Welche Reaktionen meinerseits beruhigen Oma am Besten?
- Dass jemand tot ist ansprechen – Ja oder Nein?
- Was kommt als nächstes?
- Wie nah sind wir schon dem Moment sie in ein Heim zu geben?
- Wie sicher können wir sie noch betreuen?
Es häuften sich die Fälle des Vergessens. Sie sprach ihren Enkel mit dem Namen ihres verstorbenen Sohnes an. Sie wusste nichts mehr von den Hochzeiten ihrer Enkel. Vergessen waren die Tode ihrer Cousine und deren Lebensgefährten und der Tod ihrer Mutter vor über 30 Jahren. Ihre Schwiegertochter wurde mit dem Namen ihrer Schwiegermutter gerufen und nun war auch Opa für sie wieder von den Toten auferstanden.
Es machte mich traurig mitzuerleben. Die Verwirrung in ihren Augen, wenn ihr manchmal aufging, dass diese Personen tot sind. Ihr Lachen über ihre „Schusseligkeit“ war wie ein Messerstich in meinem Herzen. Und jedes Mal legte sich zusätzlich die Kralle der Angst um mein Herz, wenn wieder ein Toter lebendig wurde. Ich hatte Angst, dass sie die Trauer über den Verlust eines geliebten Menschen nochmal erleben würden. Ich wollte diese Traurigkeit nicht in ihren Augen sehen. Ich wollte nicht der Grund sein diese Traurigkeit auszulösen. Aber zulassen, dass sie jemanden sucht, der bereits tot ist – nein, das konnte ich auch nicht. Also musste ich ihr manchmal sagen, dass eine Person schon lange nicht mehr lebt. Ich musste mit der Angst im Nacken leben, dass diese Aussage sie traurig macht.
Und es ist auch kein Wunder, dass diese Angst an mir nagte, war ich es doch die Oma mitten in der Nacht sagen musste, dass ihr jüngster Sohn – mein Vater – tot ist…