Wir haben bei der Krankenkasse ein Skalamobil (eine Treppensteighilfe) für Oma beantragt. Die Krankenkasse hat dieses Gerät abgelehnt und es an die Pflegeversicherung weitergereicht.

Nun war gestern eine Dame von der Pflegeversicherung da um sich mit uns zu unterhalten. Sie wollte Omas Zustand prüfen.

Omas Tarnung ist ausnahmsweise mal aufrecht geblieben, dadurch hat man es natürlich immer schwer. Wie soll man belegen dass Oma geistig so gut wie gar nicht mehr wirklich greifbar ist und sie nur noch “Platten” abspielt, welche jedoch so täuschend normal klingend dass man glauben könnte sie sei noch geistig fit?

596671_web_R_B_by_silberfischchen_pixelio.deAls Angehörige, welche rund um die Uhr mit ihr zusammen sind, wissen wir natürlich wann eine Platte läuft und wann nicht. Die Ausfälle bemerkt man vornehmlich an Dingen, die sie tut und wenn 2 hintereinander abgespielte Platten nicht zusammen passen oder die Realität verschoben wird. Doch Fremde können das gar nicht erkennen. Fremde kommen nicht so nah an Oma ran. Sie merken nicht wenn Oma mal wieder Klopapier in den Slip tut dann die Urineinlage reinpackt und nochmal Klopapier zwischen 5 Slips steckt. Sie sehen nicht wenn Oma 3 BH’s anzieht oder wenn sie ein Sofakissen für Socken hält. Fremde sind nicht da wenn sie nachts um 2 Uhr darauf besteht dass es 8 Uhr morgens wäre. Fremde können nur eine Momentaufnahme wahrnehmen. Wenn Oma stolz erzählt sie sei 91 Jahre alt und keiner aus der Familie sei je so alt geworden und sie wolle noch 100 werden und die 9 Jahre schaffe sie auch noch, dann glaubt das ein jeder Fremde. Doch ist sie erst 81.

Und wenn Oma erzählt ihr Mann sei erst vor kurzem gestorben und sie habe nur ein Enkelkind, dann glaubt das auch ein jeder. Dabei ist Opa schon 8 Jahre tot und es gibt neben mir auch noch meinen Bruder und seinen Sohn. Doch woher soll ein Fremder das wissen?

In der Tagespflege lässt Omas Tarnung langsam nach. Doch bei Gutachtern und Prüfern da täuscht sie noch immer die geistig vorhandene vor.

Wenn Oma nach dem Frühstück und nachdem sie ihre Medikamente von uns bekam, eine halbe Stunde später mit Vehemenz dasteht und rumbrüllt sie habe nichts zu essen bekommen und wir würden ihr ihre Tabletten vorenthalten, dann würde jeder Beobachter der Szene denken was wir für grausame Pflegepersonen wären. Ich könnte es dem Beobachter nicht mal verdenken…..

Wenn ich manchmal den Tonfall meiner Ma gegenüber meiner Oma höre, dann zucke ich zusammen. Manchmal muss man sich sehr arg zusammen nehmen. Doch leider kommt Oma hin und wieder nur bei einem schärferen Tonfall zur Ruhe. Sie ist sonst gar nicht vom Thema abzubringen. Selbst dem Pflegepersonal in der Tagesbetreuung ist es schon so ergangen dass sie schärfer Oma ansprechen mussten, da sie sonst gar nicht aufhörte. “Nun ist aber mal gut, Du musst mir das jetzt einfach glauben.” in scharfen Tonfall verursacht bei Oma ein Kopfschütteln mit “Nein, so geht das nicht mehr.” Wenn man danach sofort in milden Tonfall ein anderes Thema anspricht dann hat man zu 80% Glück dass sie aus der nervigen Dauerbeschäftigung des Vorthemas raus kommt.

Man lernt zu tricksen. Man erfindet die wildesten Lügen um Oma ruhig zu bekommen. Sie beschäftigt seit Wochen ein schwarzer Klebestreifen im Flur. Ein Überbleibsel nachdem wir einen Teppich, aufgrund Stolperfallenbeseitigung, wegschafften zurück blieb. Ich versuchte ihr weißzumachen dass das Kunst wäre. Hat leider nicht funktioniert. Dass ihr Gasherd nicht mehr funktioniert weil es in Hannover kein Küchengas mehr gebe, glaubt sie jedoch.

Aufgrund der Platten, welche immer Laufen, frage ich mich häufiger: “Was ist von Oma eigentlich noch da?”

Gestern sagte sie zu mir: “Lass die Wohnungstür ruhig mal offen, dann kommt Luft rein.” Jahrelang durfte diese Tür nie aufstehen. Oma musste immer alles verschlossen halten. Die Tür zum Lüften auf zu lassen, nein das gabs früher nie. Und nun umgekehrt? Es irritierte mich sehr. Eigentlich dumm, dass eine solche Kleinigkeit mit auffällt. Aber es so ganz anders als wie sie war.

Und auch der Schlafzimmervorhang. Mein ganzes Leben lang war die Schlafzimmertür tagsüber immer, wirklich immer, geschlossen. Und auch als wir den Vorhang durchsetzten, war dieser immer geschlossen. Omas Worte klingen mir noch heute in den Ohren: “Ich kann das nicht abhaben, wenn das auf ist. Da kann ja sonst jeder reingucken, wie sieht denn das aus!“
Und heute? Heute darf der Vorgang nicht geschlossen sein. Er muss auf sein. Sie kann das nicht abhaben auf den geschlossenen Vorhang zu gucken. Wie sieht denn das aus?, hieß es.

Diese kleinen radikalen Wechsel lassen mich daran zweifeln ob meine Oma wirklich überhaupt noch ihr eigenes Wesen, wie vor der Krankheit, besitzt.

Sie ist oft anstrengend und doch hat sie auch neue liebevolle Eigenarten entwickelt. Dinge, die sie früher nie verstand, scheinen heute von ihr einfach wiederholt zu werden als ihre Meinung. Vor allem über Umarmungen und Küsschen auf die Wange freut sie sich sehr und das sind die Momente in denen einem das Herz überquillt vor Liebe zu ihr. Sie einfach in den Arm zu nehmen, das macht Oma oft sehr glücklich. Auch wenn es für mich immer aufs neue Irritierend ist in dem Moment die Standardaussage zu hören: “Ach, wie komme ich denn dazu? Das ist aber lange her dass Du das getan hast.” Auch wenn es erst ein paar Stunden her ist dass ich sie zuletzt umarmte. Doch der Ausdruck der glücklichen Freude in ihren Augen in genau diesem Moment, der wird mir auf immer im Gedächtnis bleiben.