Am Samstag war meine Oma 85 Jahre alt geworden. Da ich mit den Kindern nicht allein zu ihr wollte, hatte ich mir für Sonntag vorgenommen mit meiner Ma hinzufahren. Dass das eine gute Entscheidung war, verriet mir ein Anruf, welchen ich am Sonntagmorgen vom Pflegeheim bekam.

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“Wenn Sie sie nochmal sehen wollen….”

Wenn man diesen Satz hört, dann weiß man eigentlich alles. Oma hatte zu dem Zeitpunkt schon über 24 Stunden Nahrung verweigert und auch das Trinken fiel nur gering aus. Über Nacht bekam sie subkutan 1 Liter Flüssigkeit, doch ist auch das bei weitem nicht ausreichend um den Körper vollständig zu versorgen. Sie war die ganze Woche immer mehr weggesackt und wanderte in eine Art Dauerschlaf über. Am Sonntag wurde sie nicht mal mehr aus dem Bett geholt. Es lag nun an mir zu entscheiden, ob ein Notarzt geholt werden sollte oder nicht. Meine Fragen am Telefon ergaben, dass es nicht wie die anderen Male war, wo sie einfach nur im Krankenhaus mit Infusionen aufgepeppelt werden musste.

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“Die Augen sind eingefallen, die Nase wurde spitzer.”

Auch dies sind 2 Aussagen, bei denen jeder hellhörig werden sollte. Meine andere Oma sagte uns, dass dies sehr sichere Anzeichen sind, dass es dem Ende zugeht. Sie kenne das nur zu gut.

Das waren keine Aussagen, die noch Hoffnung machen, daher bestand nun meine Aufgabe alle zu informieren und mit der selben Aussage “Wenn Du sie nochmal sehen willst” zu konfrontieren. Keine schöne Aufgabe….

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Der Besuch bei Oma

Meine Ma und ich machten zusammen die Kids fertig und schon ging es mit der S-Bahn zu Oma. Fälschlicherweise stiegen wir erst in die falsche S-Bahn und fanden uns dann auf der Pferderennbahn wieder um auf die andere S-Bahn zu warten. Diese fährt Sonntags aber nur jede Stunde, weshalb wir 40 Minuten in der Kälte ausharren mussten. Da die Jungs friedlich schliefen, war es kein Problem. Dazu trafen wir einen sehr netten und höflichen Mann mit dem wir uns gut unterhielten. Er sah aus wie ein Obdachloser, der seinem Bierkonsum am Bahnsteig fröhnt, doch war er einfach ein Rentner, der gern ein Bierchen trinkt und in der Nähe wohnt. “Fernsehen kann ich daheim später auch noch.”, war die Antwort wieso er denn sein Bierchen am Bahnsteig trinkt. Er mag es dazusitzen. Da sieht man wieder einmal, dass der äußere Schein nicht das sein muss, was man denkt. Ich fand die Begegnung sehr erfrischend.

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Bei Oma am Heim angekommen, erwartete uns schon mein Bruder. Gemeinsam fuhren wir hoch zu Oma. Kaum angekommen, stieß auch schon meine Großtante Tata zu uns. Nun waren wir alle bei Oma versammelt. Der Anblick war nicht schön. Mein erster Gedanke war, ob sie vielleicht einen Schlaganfall hatte, weil ihr Gesicht so schief aussah. Aber nein, das ist wohl nicht der Fall, es liegt einfach daran, dass sie kaum noch Muskelspannung hat. Auch ist sie sehr sehr stark abgemagert. Der Vergleich ist grausam, aber Häftlinge in einer sehr dunklen Phase Deutschlands sahen genauso aus.

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Oma nahm uns alle nicht wahr. Sie zeigte keinerlei Reaktion auf Berührung oder Ansprechen. Einzig als ich ihr die Schnabeltasse hinhielt, trank sie ein wenig. Doch verschluckte sie sich und man merkte beim Versuch zu Husten, dass sie keine Kraft mehr hat. Sie atmete sehr flach und schlief sofort wieder weg. Nicht mal das Schreien meiner Kinder beim Wickeln quittierte sie mit einer Regung.

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Alex setzte ich kurz zu ihr aufs Bett und er betatschte immer wieder ihre Hand. Alex war dabei ganz ruhig geworden. Basti war dafür nicht zu haben. Er fremdelt immer bei neuen Situationen. Ob meine Oma die Nähe von Alex spürte, ich hoffe es. Ob sie es verstand? Vermutlich nein. In diesem Zustand ist die Demenz wohl zum ersten Mal ein Segen statt eines Fluches.

Wir waren gut 2 Stunden bei Oma geblieben. Ich sprach mit einem Pfleger über das weitere Vorgehen und nahm Abschied von Oma. Ich sagte ihr, dass sie nun zu Opa und Papa gehen dürfe und schön grüßen solle.

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Der nächste Tag

Am nächsten Tag war gleich morgens der Hausarzt bei Oma. Es wurden alle Medikamente abgesetzt und sie bekommt nur noch die Infusionen. Sie wacht seitdem auch gar nicht mehr auf. Eine Pflegerin meinte zu mir, dass sie jede halbe Stunde nach ihr schauen und jede Minute ab jetzt damit rechnen, dass sie einschläft. Sie hat immer länger werdende Atemaussetzer und man wartet nun einfach. Es war tags davor schon meine Entscheidung, dass kein Notarzt gerufen werden soll, welcher sie sowieso nur ins Krankenhaus gebracht hätte. Schon beim letzten Krankenhausaufenthalt wurde mir nahgelegt, keine lebensverlängernden Maßnahmen mehr zuzulassen. Da ich Omas Wünsche diesbezüglich kenne, gab ich auch dieses Mal die Anweisung, dass keine verlängernden Maßnahmen mehr ergriffen werden sollen. Keine leichte Entscheidung, über die ich dennoch mit den anderen Familienmitgliedern erneut sprach, auch wenn wir das alles schon lange durch hatten und ich die Meinung der Anderen kenne. Dennoch ist es nicht verkehrt, wenn man diese Entscheidung treffen muss, sich Bestätigung und Rückhalt innerhalb der Familie zu holen. Als Betreuerin hat man nun mal sehr schwere Entscheidungen zu fällen. Ich scheue mich nicht davor, aber weh tut es dennoch.

Immerhin scheint sie keine Schmerzen zu haben und durch den Dauerschlaf ist es auch irgendwie gnädiger. Doch für uns alle ist es quälend. Wir warten auf die Erlösung, denn nichts anderes ist ihr Tod für sie. Durch die Demenz und den steten Abbau ihres Körpers war es schon lange kein Leben mehr.

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Mein Bruder und meine Großtante waren Montag nochmal da. Mein Bruder schickte mir 2 Fotos meiner Oma und der Unterschied innerhalb von 24 Stunden ist deutlich. Dieses Mal wird es keine Besserung mehr geben. Ich werde mit den Kindern nicht nochmal hinfahren. Ab jetzt könnte ich es für die Kleinen nicht mehr verantworten. Am liebsten würde ich rund um die Uhr neben meiner Oma sitzen und Händchen haltend bei ihr warten. Allein zu sterben ist nichts Schönes. Doch eigentlich stirbt immer jeder für sich allein. Wie oft ist es so, dass ganze Familien am Sterbebett stehen und wenn alle mal kurz rausgehen und wiederkommen, ist der geliebte Mensch gegangen? Durch die Kinder kann ich nicht bei ihr sein, wie ich es gern würde. Ich tröste mich damit, dass sie durch den Schlaf und die Demenz nichts von ihrem Sterben merkt. Ich hoffe, dass sie nichts merkt. Auch wenn jeder immer sagt, dass diejenigen die Nähe spüren, ich hoffe dass sie nichts spürt. Von nichts und niemanden – auch nicht von sich selbst. Möge sie einfach schöne Träume haben bis sie hinübergleitet.

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Warten auf den Anruf

Und nun sitze ich hier und warte rund um die Uhr auf den Anruf. Das Warten ist unerträglich. In Gedanken bin ich rund um die Uhr bei ihr. Auch wenn ich es körperlich nicht sein kann.